Meilensteine der Rechtsprechung
In den folgenden Jahren wurde der Staatsgerichtshof zwar kaum mit Fällen befasst. Diese waren jedoch mitunter sehr bedeutsam:
1931 folgte die erste Bewährungsprobe im Form einer Ministeranklage: Anlass war der Sparkassaskandal, der 1928 das schon von Naturkatastrophen und wirtschaftlichen Krisen heimgesuchte Land an den Rand des Bankrotts getrieben hatte. Da die Verantwortung für den durch kriminelle Handlungen von Sparkassamitarbeitern verursachten Schaden bei der Volkspartei gesucht wurde, klagte 1931 der von der Bürgerpartei dominierte Landtag den früheren Regierungschef Gustav Schädler beim Staatsgerichtshof wegen Gesetzesverletzung an.
Obwohl dem fünfköpfigen Richtergremium neben zwei ausländischen Richtern (einem Anwalt aus St. Gallen und einem Richter des Landesgerichts in Feldkirch) ausschliesslich Personen angehörten, die der Bürgerpartei nahestanden, sprach das Gericht den früheren Regierungschef von der politisch motivierten Anklage frei. Der Staatsgerichtshof hatte einen Beweis seiner Unabhängigkeit geliefert und seine erste grosse Bewährungsprobe bestanden.
Die Ministeranklage gegen Alt-Regierungschef Schädler ist der einzige Fall, in dem sich ein Mitglied der Regierung vor dem Staatsgerichtshof verantworten musste.
Im Übrigen wurde der Staatsgerichtshof relativ selten mit Beschwerden befasst, was sich auch nach 1945 vorerst nicht änderte. Der Staatsgerichtshof war gerade bei Individualbeschwerden von BürgerInnen, die sich auf Grundrechtsverletzungen durch die Gerichte stützten, äusserst zurückhaltend. Bis in die 1960er Jahre erschöpfte sich die Grundrechtsprüfung im Wesentlichen in einer Willkürprüfung.
In den Folgejahren entwickelte der Staatsgerichtshof allerdings eine viel intensivere Grundrechtsprechung und ein differenzierteres Verständnis der Grundrechte, mit der er Anschluss an die internationale Entwicklung gewann. Von grosser Bedeutung für diesen Perspektivenwandel war insbesondere der Beitritt Liechtensteins zur EMRK. Der Staatsgerichtshof judiziert, dass der EMRK ein Quasi-Verfassungsrang zukommt und bewegt sich damit in der Gemeinschaft anderer Staaten mit fortschrittlicher Grundrechtsprechung.
Die Grundrechtsprechung des Staatsgerichtshofes verläuft heute im Wesentlichen im Einklang mit jener des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, wird aber auch inspiriert vom deutschen Bundesverfassungsgericht, vom österreichischen Verfassungsgerichtshof und vom schweizerischen Bundesgericht.
Eine Herausforderung für die Rechtsprechung bildete der Beitritt Liechtensteins zum EWR 1995. Der Staatsgerichtshof judiziert, dass dem EWR-Recht grundsätzlich Vorrang vor nationalem Recht zukommt, soweit nicht Grundprinzipien und Kerngehalte der Verfassung beeinträchtigt werden. Er hat ausserdem bereits Landesrecht, welches dem EWR-Recht entgegensteht, als verfassungswidrig aufgehoben.