Das Gericht

Geschichte

Die Geschichte des Staats­gerichtshofes ist eng verbunden mit der Ent­stehung der Verfas­sung von 1921. Zur damaligen Zeit war der Staats­gerichtshof etwas völlig Neues. 

In den benachbarten Staaten herrschte eine revolu­tionäre Stimmung; in Liechten­stein bewirkte die wirt­schaft­liche Not Forde­rungen nach Verände­rungen. Dadurch kam es zu Verhand­lungen, die zu den Schlossab­mach­ungen führten. Die Schlossab­mach­ungen waren die Grundlage, um die neue Verfas­sung und den Staats­gerichtshof zu schaffen. 

Im Auftrag des Fürsten Johann II. von Liechten­stein vom 11. September 1920 an die Regie­rung, dem Landtag eine neue Verfas­sung auf Basis der Schlossab­mach­ungen zu unterbreiten, wird unter Punkt 4. die Stel­lung des Staats­gerichtshofes festgelegt: 

„Ausserdem ist im Wege eines besonderen Gesetzes ein Staats­gerichtshof als Gerichtshof des öffent­lichen Rechtes zum Schutz der staatsbürger­lichen Rechte, zur Ent­schei­dung von Kompetenzkonflikten und als Disziplinar­gerichtshof für öffent­liche Ange­stellte zu errichten.” [Rupert Quaderer, S. 188, in: Vaterländi­sche Union (Hrsg.), Die Schlossab­mach­ungen vom September 1920] 

Drei Tage später erhoben die Politiker die Forde­rung, dass auch der Staats­gerichtshof mehrheit­lich aus Liechten­steinern zu bestehen habe und dass die Urteile des Staats­gerichtshofes über „präjudicielle Verfas­sungsfragen“ kassatorisch zu sein hätten. Wegen des Ansehens des Staats wurde gleichfalls gefordert, dass der Präsident des Staats­gerichtshofes ein gebürtiger Liechten­steiner sein müsse. 

Die neue Verfas­sung vom 5. Oktober 1921 trug den Forde­rungen Rech­nung, welch in den Schlossab­mach­ungen hart und zum Teil erbittert errungen worden waren. Sie trat am 24. Oktober 1921 in Kraft.


 

Neue Verfas­sung

„Die neue liechten­steini­sche Verfas­sung vom 5. Oktober 1921 verschob die Gewichte wesent­lich: Hatte die alte Verfas­sung von 1862 dem Fürsten noch ein Über­gewicht im Sinne des monarchi­schen Prinzips zugesprochen, so war nun die Staatsform in der neuen Verfas­sung als «konstitu­tionelle Erbmonarchie auf demokrati­scher und parla­mentari­scher Grundlage» definiert, die Staats­gewalt dualistisch «im Fürsten und im Volke verankert». Der Fürst hatte sich zugun­sten der Volks­rechte ein­schränken lassen, aber zugleich wesent­liche Rechte wahren können.” [Peter Geiger, Krisenzeit, 2. Aufl., Vaduz 2000, Band 1, S. 67] 

Die Gerichtsbar­keit wurde von Grund auf reorganisiert. Neue Gerichte wurden geschaffen: 

„Die Gerichts­in­stanzen waren nun alle ins Land geholt und aus­gebaut: Land­gericht, Ober­gericht, Ober­ster Gerichtshof, dazu Staats­gerichtshof und Verwal­tungs­be­schwerde-Instanz. Die früheren fremden Gerichte in Österreich waren aus­ge­schaltet. Auswärtige Richter, vom Landtag gewählt, zog man fortan aus Österreich und der Schweiz zur Ergänzung der Richterkollegien bei...” [Gei­ger, a.a.O., S. 68]


 

Einrich­tung des Staats­gerichtshofes

Mit der Verfas­sung vom 5. Oktober 1921 war zwar der Staats­gerichtshof geschaffen, aber noch nicht funk­tionsfähig, da ein entsp­rechendes Gesetz fehlte. Die Arbeiten für diesen Schluss­stein verzögerten sich infolge Arbeitsüberlas­tung der Behörden und der beiden Verfasser Wilhelm Beck und Emil Beck.

Beträcht­liche Vorarbeiten waren im Zusam­menhang mit dem Landes­verwal­tungs­pfle­ge­ge­setz von 1922 gelei­stet worden, doch erst im Sommer 1925 wurden ein Gesetzesentwurf und ein Kom­missions­bericht vorgelegt. In der Sitzung vom 5. November 1925 behandelte und beschloss der Landtag das Staats­gerichtshofgesetz. Der Landtag wählte 14 Tage später die ersten Richter des Staats­gerichtshofes. Damit konnte der Staats­gerichtshof mit seiner Arbeit beginnen.


 

Meilen­steine der Rechtsp­rech­ung

In den folgenden Jahren wurde der Staats­gerichtshof zwar kaum mit Fällen befasst. Diese waren jedoch mit­unter sehr bedeutsam:

1931 folgte die erste Bewährungsprobe im Form einer Mini­steran­klage: Anlass war der Sparkassaskandal, der 1928 das schon von Naturkata­strophen und wirt­schaft­lichen Krisen heim­ge­suchte Land an den Rand des Bankrotts getrieben hatte. Da die Verantwor­tung für den durch kriminelle Hand­lungen von Sparkassamitarbeitern verursachten Schaden bei der Volkspartei gesucht wurde, klagte 1931 der von der Bürgerpartei dominierte Landtag den früheren Regie­rung­schef Gustav Schädler beim Staats­gerichtshof wegen Gesetzes­verletzung an.

Obwohl dem fünfköpfigen Richtergremium neben zwei ausländi­schen Richtern (einem Anwalt aus St. Gallen und einem Richter des Landes­gerichts in Feldkirch) ausschliess­lich Personen angehörten, die der Bürgerpartei nahe­standen, sprach das Gericht den früheren Regie­rung­schef von der politisch motivierten Anklage frei. Der Staats­gerichtshof hatte einen Beweis seiner Unabhängig­keit geliefert und seine erste grosse Bewährungsprobe bestanden.

Die Mini­steran­klage gegen Alt-Regie­rung­schef Schädler ist der einzige Fall, in dem sich ein Mitglied der Regie­rung vor dem Staats­gerichtshof verantworten musste.

Im Übrigen wurde der Staats­gerichtshof relativ selten mit Beschwerden befasst, was sich auch nach 1945 vorerst nicht änderte. Der Staats­gerichtshof war gerade bei Individual­be­schwerden von BürgerInnen, die sich auf Grund­rechts­verletzungen durch die Gerichte stützten, äusserst zurückhaltend. Bis in die 1960er Jahre erschöpfte sich die Grund­rechtsprüfung im Wesent­lichen in einer Willkürprüfung. 

In den Folgejahren entwickelte der Staats­gerichtshof allerdings eine viel intensi­vere Grund­rechtsprechung und ein differenzierte­res Verständnis der Grund­rechte, mit der er Anschluss an die interna­tionale Entwick­lung gewann. Von grosser Bedeu­tung für diesen Perspektivenwandel war ins­besondere der Beitritt Liechten­steins zur EMRK. Der Staats­gerichtshof judiziert, dass der EMRK ein Quasi-Verfas­sungsrang zukommt und bewegt sich damit in der Gemein­schaft anderer Staaten mit fort­schritt­licher Grund­rechtsprechung. 

Die Grund­rechtsprechung des Staats­gerichtshofes verläuft heute im Wesent­lichen im Ein­klang mit jener des Europäischen Gerichtshofes für Men­schen­rechte, wird aber auch inspiriert vom deut­schen Bundes­verfas­sungs­gericht, vom österreichi­schen Verfas­sungs­gerichtshof und vom schweizeri­schen Bundes­gericht. 

Eine Heraus­forde­rung für die Rechtsp­rech­ung bildete der Beitritt Liechten­steins zum EWR 1995. Der Staats­gerichtshof judiziert, dass dem EWR-Recht grundsätzlich Vorrang vor nationalem Recht zukommt, soweit nicht Grundprinzipien und Kern­gehalte der Verfas­sung beeinträchtigt werden. Er hat ausserdem bereits Landes­recht, welches dem EWR-Recht ent­gegen­steht, als verfas­sungswidrig auf­gehoben.


 

Verfas­sungsentwick­lung

Die Verfas­sung Liechten­steins wurde seit 1921 vielfach geändert. Im Hinblick auf die Verfas­sungsgerichtsbarkeit wesent­lich ist vor allem die Verfas­sungsrevision von 2003 [siehe LGBl. 2003 Nr. 186]. Sie brachte auch für den Staats­gerichtshof wichtige Neue­rungen. Seither können auch Staats­verträge auf ihre Verfas­sungskonformität geprüft werden.

Ausserdem wurde ein besonde­res Verfahren der Richterauswahl eingeführt: Ein unter dem Vorsitz des Landesfürsten stehendes Richterauswahlgremium, dem Mitglieder der Landtagsfr­ak­tionen, der Regie­rung sowie vom Landesfürsten entsendete Personen angehören, schlägt dem Landtag einen KandidatInnen zur Wahl vor. Im Falle einer Wahl wird die betreffende Person vom Landesfürsten ernannt. 

Im Gefolge der Verfas­sungsrevision 2003 wurde auch ein neues Staats­gerichtshofgesetz erlassen (StGHG). Damit verfügt der Staats­gerichtshof über eine moderne Gesetzes­grundlage seiner Verfahren.