[Quelle: Staatsgerichtshof des Fürstentums Liechtenstein (Hrsg.), 75 Jahre Staatsgerichtshof des Fürstentums Liechtenstein, Vaduz 2000]
Der Staatsgerichtshof gilt als die «Krönung» der Verfassung von 1921. Tatsächlich war er das erste europäische Verfassungsgericht mit umfassenden Prüfungskompetenzen hinsichtlich der Verfassungsmässigkeit sowohl letztinstanzlicher Gerichtsentscheidungen als auch von Gesetzen und Verordnungen.
"Mit der Fülle seiner Befugnisse war der liechtensteinische Staatsgerichtshof für lange Zeit geradezu konkurrenzlos im internationalen Vergleich. Erst mehr als ein Vierteljahrhundert später entstand mit dem deutschen Bundesverfassungsgericht ein Staatsorgan mit ähnlicher Kompetenzausstattung." [Wolfram Höfling, Die Liechtensteinische Grundrechtordnung, LPS Bd. 20, Vaduz 1994, S. 33]
Der Staatsgerichtshof besteht aus dem Präsidenten und vier weiteren Richtern sowie deren StellvertreterInnen, welche alle im Nebenamt tätig sind. Die Richter des Staatsgerichtshofes werden vom Richterauswahlgremium gemäß Art. 96 der Verfassung dem Landtag zur Wahl vorgeschlagen. In diesem Organ hat der Landesfürst den Vorsitz. Er kann ebenso viele Mitglieder in dieses Gremium berufen wie der Landtag VertreterInnen entsendet, welcher für jede Fraktion je einen Abgeordneten stellt. Der vom Landtag gewählte Kandidat wird vom Landesfürsten zum Richter ernannt.
Als Verfassungsgerichtshof wacht der Staatsgerichtshof darüber, dass sämtliche Behörden die in der Verfassung garantierten Grundrechte einhalten. Mit dem Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) im Jahre 1982 und zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im Jahre 1995 kamen die Kompetenzen des Staatsgerichtshofes zur Überprüfung der EMRK- bzw. EWR-Konformität ihm vorgelegter Entscheidungen dazu. Menschen wie auch Körperschaften können eine Individualbeschwerde beim Staatsgerichtshof einreichen und vorbringen, dass die Entscheidung des obersten ordentlichen Gerichts ihre Grundrechte verletzt habe.
Der Staatsgerichtshof überprüft ausserdem die Tätigkeit des Gesetzgebers der Verwaltungsbehörden mittels einer umfassenden Normenkontrollfunktion, wobei er verfassungswidrige Gesetze und Verordnungen ganz oder teilweise aufheben kann. Eine solche Prüfung kann der Staatsgerichtshof immer dann vornehmen, wenn er eine ihm verfassungswidrig erscheinende Rechtsnorm selbst anzuwenden hat. Auch Gerichte können dem Staatsgerichtshof Gesetze und Verordnungen, welche sie in einem bei ihnen hängigen Verfahren anzuwenden haben, zur Überprüfung vorlegen. Unabhängig von einem konkreten Anwendungsfall können sowohl die Regierung als auch die Gemeinden dem Staatsgerichtshof Gesetze zur Überprüfung vorlegen. Den Gemeinden kommt diese Kompetenz auch in Bezug auf Verordnungen zu. Eine solche Verordnungsüberprüfung durch den Staatsgerichtshof kann zudem von mindestens 100 stimmfähigen Bürgern verlangt werden.
Schliesslich kann auch jede Person, die durch eine solche Norm unmittelbar in ihren verfassungsmässigen oder etwa durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantierten Rechten verletzt ist, beim Staatsgerichtshof Individualbeschwerde einlegen, wenn die jeweilige Rechtsvorschrift ohne Fällung einer Entscheidung oder Verfügung der öffentlichen Gewalt wirksam geworden ist.
Weiter entscheidet der Staatsgerichtshof über Kompetenzkonflikte zwischen Verwaltungs- und Gerichtsbehörden. Schliesslich ist er Wahlgerichtshof und befindet auch über allfällige Ministeranklagen.
Die weitreichenden Kompetenzen des Staatsgerichtshofes geben ihm ein beträchtliches Gewicht im Kräftespiel der Verfassungsorgane. Insbesondere seine Kompetenz zur Überprüfung der Verfassungsmässigkeit von Gesetzen ist eine dauernde Gratwanderung zwischen der legitimen Korrektur von gesetzgeberischen Grundrechtsverstössen und einer unzulässigen politischen Bevormundung der demokratisch gewählten Legislative. Auch wenn der Staatsgerichtshof gelegentlich korrigierend in die Domäne des Gesetzgebers eingreifen muss, legt er sich grundsätzlich Zurückhaltung auf.